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Ins Umland fahren, ins Grüne, die Stadt hinter sich lassen, raus fahren in Natur und Ferne – das war für (West-) Berliner Stadtmenschen nicht nur der Sonntagsausflug, sondern auch der Kurzausflug, die längere Autotour, die durchaus manchmal bis zu den Alpen oder dem Atlantik reichte, denn das tatsächliche Umland begann erst weit hinter den Stadtgrenzen. Aus der Stadt aufs Land, ins Land fahren, mit dem Auto die Landschaft in Geschwindigkeit auflösen und dann am Rand einer Landstrasse, am See, zwischen Bauerngehöft und Heuwiese, am Halteplatz mit Aussicht auf, angehalten, pausiert, verweilt und Aussicht und Luft genossen – all dies in den Blickwinkel einer Fotokamera gesetzt – dies gibt die Auswahl von Diafotografien, die Susanne Wehr in der Serie Umland zusammengestellt hat wieder. Diese fotografisch festgehaltenen Momente zeigen dem Betrachter mindestens zweierlei: die Lust am Unterwegsseins der Reisenden und ihren Stolz auf ihr Auto, Vehikel des Möglichen, privates Objekt und Zeichen ihrer außergewöhnlichen Identitätsprägung.

Susanne Wehr bringt durch ihre Auswahl von Diapositiven aus Privatnachlässen diese Fernfahrersehnsucht der Berliner Städter, deren Vorliebe für Provisorien, den Stolz auf das in der Ferne sein und das Objekt dieser Möglichkeiten, das eigene Auto mit Stadtkennzeichen B auf den Punkt.

Eine Frau posiert mit schwarzer Handtasche am Wagen, eine andere winkt dem Fotografen vor dem Einsteigen zu, ein Mann lehnt gegen Sonnenlicht blinzelnd an seiner Fahrertür, ein anderer legt seine Hand auf die Motorhaube, ein Paar lässt sich zusammen mit offener Fahrertür fotografieren – all diese in Szene gesetzten Gesten oder Reise-Choreografien zeigen das Auto als (Status-) Symbol für das Unterwegsseinkönnen. Man könnte die Diapositive auch anhand der Hintergründe betrachten, die verschiedenen Landschaftsstriche, Orte und unterschiedlichen Idyllen herausfiltern, deuten oder interpretieren – ein Merkmal jedoch ist durchgängiges Indiz und Signifikant: das Kennzeichen B für Berlin. Das Fotografieren des Autokennzeichens ist das wir waren hier – Beweismittel für eine Authentizität, Schrifttext im Bild und gleichermaßen fotografischer Platzhalter für den postalischen „schönen Gruß aus…“.

Susanne Wehrs künstlerisches Vorgehen Diapositive aus Nachlässen zu sammeln, diese zu sichten und neu zu sortieren erweist sich nicht nur als ein Anlegen eines historisch-interpretierbaren Bildkonglomerats, sondern es gibt zudem die unzähligen Varianten unseres Blickes auf fotografische Bilder wieder. Wir sehen, entdecken in den Diafotografien das, was wir kennen, das, was unsere Erinnerung uns zugesteht und das, was wir in enger Verwandtschaft zu Diskursen über zeitgenössische Fotografie in den Privatfotografien entdecken können.

Durch das Öffnen von Kästen, Schachteln oder Kartons ermöglicht Susanne Wehr die Sicht auf fremde Leben, auf einzelne Augenblicke anderer Leben und verdeutlicht damit, dass der Blick auf etwas, das how to look at it aus dem Diskurs der zeitgenössischen Fotografie nicht mehr wegzudenken ist. Entgegen dieser kritischen Reflexion steht der stille Augenblick des Entdeckens und des Lüftens der Diafotografien aus der Blicklosigkeit des Verborgenen als autarker Moment. Die intime Gestik und Handlung des Aufdeckens und Repräsentierens aus dem privaten Bereich in einen öffentlichen wird durch den sensitiven Blick der Fotografin Susanne Wehr transferiert.

Dadurch, dass die Fotografen der Diaaufnahmen unbekannt und unerkannt bleiben spürt man eine durchgängige Autorschaft, eine Art stillschweigende Übereinkunft eines fotografischen Blickes auf den Alltag und auf besondere Erlebnisse. Hier, in der von Susanne Wehr ausgewählten Serie Umland wird das Erlebnis des Wegfahrens in das weit entfernt liegende Umland Berlins (innerhalb der Zeit von 1961-1989) als ein kollektives Ritual bestimmt, das jedoch auf den zweiten Blick das Motiv Sehnsucht aufdeckt: zum einen die Sehnsucht nach einem tatsächlichen Um-Land, zum anderen die Sehnsucht nach einem Selbstbildnis des in der Ferne-Seins und der Wunsch nach einem Heimatgefühl zu einer oder in einer Landschaft. Das Auto, mit Kennzeichen B scheint res mobilis für all dies zu sein.

In den von Susanne Wehr zusammengestellten Diapositiven aus anonymen Nachlässen trifft poetisch Narratives auf Alltagsrealitäten und Ersichtliches auf Subtexte. Zu vertiefen und weiter zu entdecken in Susanne Wehrs Projekt www.volks-bild.com.

Text: Birgit Szepanski

Susanne Wehr’s artistic method of collecting, viewing and reclassifying slides from the estates of deceased people is more than just creating a conglomerate of historically interpretable pictures because it is also reflective of the innumerable ways we might view photographic images. Showcasing images taken between 1961 and 1989, her exhibition “Kennzeichen B” defines the experience of leaving Berlin to go to the country as a collective ritual, though a closer look also reveals the motive of yearning: for a real country to surround the city, a self-image of being far away and for a feeling of belonging to a particular landscape.

www.volks-bild.com